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Was Menschlich Ist – Leseprobe

In welcher unser Protagonist, je nach Auslegung, die erste oder fünfte Sinnkrise diese Woche erlebt.

Der Mensch saß immer noch genau so in dem Raum, wie Dorian ihn zurückgelassen hatte. Durch die harten Schatten und das kalte Licht von draußen sah Chris kreidebleich aus, seine Augenringe wie mit schwarzer Tinte gemalt. Die dunkelbraunen, nicht ganz kinnlangen Haare fielen ihm strähnig und verschwitzt in der Stirn. Um seinen Hals hing ein silbriger Anhänger, den er mit abwesender Miene zwischen den Fingern drehte. Die Flügel spreizten sich in einem merkwürdigen Winkel von seinem Rücken ab, damit sie den Beton hinter sich nicht berührten und das Zittern machte nur allzu deutlich, wie anstrengend das sein musste.
Dorian flog zielsicher durch das Loch in der Wand, landete und zog seine eigenen Flügel ein, ehe er zu Chris herüberging. Der blinzelte mehrmals und schüttelte den Kopf, als traute er seinen Augen nicht. »Wie hast du-«
»Die Flügel sind zu empfindlich, um sie jederzeit offen zu tragen. Wenn wir nicht fliegen müssen, ziehen wir sie ein.«
»Wie soll das… Dreh dich mal um.«
Bei jeder anderen Person hätte Dorian befürchtet, sie wollte ihm in den Rücken fallen, aber hier erschien ihm das Risiko klein genug. Wohl fühlte er sich trotzdem nicht dabei.
Eine Weile lang blieb Chris still und begutachtete vermutlich die beiden offenen Wunden auf Dorians Rücken, die sich dort anstelle seiner Flügel befanden. Natürlich waren auch sie empfindlich, aber damit konnte man in der Regel deutlich besser umgehen als mit zwei riesigen gefiederten Gliedmaßen.
»Wie?«, fragte Chris schließlich noch einmal.
Dorian zögerte und musste ernsthaft nachdenken, ehe er auf eine Antwort kam. Er hatte nie eine Anleitung gebraucht, als gefallener Engel gehörte er in die Luft. Fliegen fühlte so natürlich an wie Atmen – das hatte Luzifer gesagt. Impliziert.
Er senkte den Blick. Wenn er wirklich gefallen war, müsste er sich dann nicht daran erinnern können, auch im Himmel geflogen zu sein? Das Gefühl kam ihm durchaus bekannt vor, aber so sehr er es auch versuchte, kein konkretes Bild tauchte in seiner Vorstellung auf. Es warf ihn so sehr aus der Bahn, dass er Chris völlig vergaß, bis der ihm auf die Schulter tippte.
Dorian fuhr zusammen und ließ die Decke und das Wasser fallen. Die Fragen blieben. Die Erinnerungslücken auch. »Flügel sind Ausdruck und Quelle unserer Macht«, erklärte er hastig. »Ohne Flügel sind wir nicht mehr als Menschen. Ohne sie könnten wir nicht leben.« Schon beim Gedanken daran wurde ihm wieder schlecht. Dämonen machten Witze darüber, Engeln die Flügel auszureißen, wenn sie sich Luzifers Diener zuverlässig vom Leib halten wollten.
»Ich bin menschlich, auch wenn ich- Egal.« Chris seufzte. »Ich will also auf drauf aufpassen. Was muss ich machen, um sie, äh, einzuziehen?«
»Schwer zu erklären.« Weil Dorian sich denken konnte, wie hilfreich diese Antwort war, riss er sich zusammen. »Stell dir vor, du ziehst sie in deinen Körper. Das sollte funktionieren.«
Chris nickte offenkundig wenig überzeugt, schloss aber die Augen und schien es zu versuchen. Einen Flügelschlag später waren die Flügel in seinem Körper verschwunden, woraufhin er sichtlich erleichtert aufatmete.
Dorian reichte ihm die Decke, eine der Wasserflaschen und kramte einen Apfel aus seinen Manteltaschen, bevor er sich ihm gegenüber an die intakteste Wand setzte. »Hier.«
Chris begutachtete alles mit skeptischem Blick, nahm es aber schließlich mit einem gemurmelten »Danke« an. Er wickelte sich in die Decke ein, trank die Flasche in einem Zug halb leer und legte den Apfel neben sich auf den Boden. »Was ist passiert, dass du mir jetzt auf einmal helfen willst?«
»Wer bist du?«, erwiderte Dorian. Eine andere Antwort wusste er nicht.
»Mein Name ist Chris. Ich bin ein Mensch, den du in die Hölle entführt hast und der danach aus irgendwelchen Gründen mit Flügeln aufgewacht ist.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, was du sonst noch von mir hören willst.«
›Er ist ein Mensch.‹ Je öfter Chris das wiederholte, desto weniger hörte es wie Unsinn an. So sehr Dorian auch nach Ungereimtheiten und den kleinsten Hinweisen auf eine Lüge suchte, am Ende kamen ihm die Worte immer plausibler vor.
»Ich habe nichts gesehen«, murmelte er unwillkürlich, hielt sich an den Worten fest, aber sie zerronnen ihm zusehends zwischen den Fingern. »Ich habe nichts gesehen.«
Chris legte den Kopf schief und runzelte die Stirn. »Du warst doch die ganze Zeit bei mir, oder nicht?«
»Ich…«
»Warte. Fangen wir ganz von vorne an.« Dorian hatte erwartet, dass Chris wütend klang, verletzt, und in jedem Fall deutlich emotionaler. Stattdessen machte er einen interessierten Eindruck, als wollte er ein Rätsel lösen und bräuchte noch mehr Hinweise. »Ich weiß, dass Luzifer euch auf die Erde schickt, um Menschen umzubringen. Aber nach welchen Kriterien sucht er seine Opfer aus?«
»Meistens gibt er uns nur ein Gebiet auf der Erde vor«, antwortete Dorian. »Wen wir dort töten, bleibt uns überlassen.«
Mit einem tiefen Seufzen legte Chris den Kopf in den Nacken und starrte einen Moment lang Löcher in die Luft. »Das heißt, das alles war nur reiner Zufall?«
»Ja.« Das Wort hing bleiern in der Luft und verlangte nach Fortsetzung. »Es tut mir leid.«
Ein mattes Lächeln schlich sich auf Chris’ Gesicht, doch es gab keine Auskunft darüber, ob er Dorian glaubte oder nicht. »Du wusstest es nicht besser, oder?«
»Ich habe nicht gefragt.« Bis vor zwei Wochen hatte Dorian nie auch nur eine unnötige Frage gestellt, und jetzt rieselten sie kontinuierlich auf ihn herab wie Staub von der baufälligen Decke. Dieses Gespräch sollte ihm vor Augen führen, dass Luzifer Recht behielt, dass seine Welt in Ordnung war, es keine Lügen gab. Doch mit jedem gewechseltem Wort fühlte er eine fremde Art von Schuld in sich wachsen, ein Bedauern gegenüber jemandem, der ihm völlig fremd sein sollte. Dorian sollte Chris hassen, aber stattdessen kam er sich in seiner Unsicherheit beinahe verstanden vor.
Er musste fragen. »Bist du wütend?«
»Ganz ehrlich? Keine Ahnung.« Chris sah aus, als stellte ihn das selbst nicht zufrieden. »Ich sollte es sein. Und vielleicht würde ich auch tatsächlich auf dich losgehen, wenn ich nicht so müde wäre, aber… Ich weiß auch nicht. Ich glaube, zum Verarbeiten hatte ich einfach keine Zeit.«
Dorian nickte, als könnte er das nachvollziehen. Tatsächlich fiele es ihm wesentlich leichter, mit unverhohlener Wut umzugehen, als mit dem hier.
»Warum hast du mich eigentlich nicht umgebracht?«
»Wenn uns ein Mensch sieht, sollen wir ihn mit in die Hölle nehmen.«
»Und was passiert dann?«
»Ich weiß nicht.« Dorian musste Chris nicht ansehen, um zu wissen, dass er ihm das nicht glaubte. Er tat es selbst ja auch nicht mehr, denn die Wahrheit lag auf der Hand: Er hatte etwas gesehen. Und Luzifers Worte fielen in sich zusammen wie die leeren Hülsen, die sie waren. »Luzifer hat mir befohlen zu gehen, aber ich bin geblieben. Er hat dich zurückgeholt, ich weiß nicht wie, und er hat dich… verändert. Du warst ein Mensch. Und dann hattest du Flügel und seine Augen.«
»Ich hab auch noch…« Hektisch rieb sich Chris übers Gesicht und hinterließ gerötete Wangen. »Ich sehe aus wie ihr.«
»Aber wir sind Engel.«
»Luzifer hat euch gesagt, dass ihr welche seid.«
Daran erinnerte sich Dorian, als wäre es gestern gewesen. Wie er aufwachte und sein Meister ihm erzählte, was passiert war, wie seine Verwirrung Dankbarkeit wich, wie er Luzifer jedes Wort geglaubt und zu seiner Identität gemacht hatte. Wer war er, seinen Meister zu hinterfragen?
»Mir auch«, fuhr Chris fort, als wäre ihm die Wirkung seiner Worte nicht bewusst. »Er hat wohl erwartet, dass ich ihm das abnehme, aber ich weiß, dass es gelogen ist. Ich glaube, ich weiß das als einziger von euch. Irgendwas ist mit mir schiefgelaufen.«
»Ja.« Es ergab alles Sinn, die Teile fügten sich von selbst zusammen und die Erklärung lag auf der Hand. »Ich habe Luzifer abgelenkt, weil ich geblieben bin.«
»Ah.« Chris lehnte seinen Kopf an die Wand hinter sich und fasste sich an die Stirn. »Was für eine Scheiße.«
Dorian nickte. Mehr gab es dazu nicht zu sagen. Er rollte die zweite Wasserflasche zu Chris herüber, der sie stillschweigend entgegennahm und sie zu der anderen neben sich stellte.
›Was ist, wenn er Recht hat?« Gegen den Gedanken anzukämpfen fühlte sich mittlerweile sinnlos an. ›Was ist, wenn wir alle Menschen sind und es vergessen haben? Aber wenn alles, was ich glaube, falsch ist, was bleibt dann noch von mir?‹
»Und du weißt wirklich gar nichts?«, fragte Chris nach einer Weile. »Warum ihr Menschen töten sollt und wie ihn das befreien soll und alles.«
»Wir versuchen, Engel so sehr zu provozieren, dass einer von ihnen auf die Erde geht. Und wenn dieser Engel dann von uns getötet wird, befreit das Luzifer.«
»So weit bin ich auch gekommen«, murmelte Chris. Vielleicht hatte er dabei versagt und Luzifer deswegen gegen sich aufgebracht.
Sie schwiegen wieder. Chris griff nach dem Apfel neben sich, wischte ihn mehrfach mit dem Ärmel seines Mantels ab, biss schließlich hinein und kaute mit nachdenklicher Miene. Schweigend aß er auf, warf den Rest aus dem Loch in der Wand und lehnte sich zurück. Wieder berührte er seinen Anhänger. Wieder wurde Dorians Blick davon angezogen, aber er riss sich los, um nicht zu starren.
»Willst du mehr?«, fragte er stattdessen.
Chris schaute auf. »Wovon?«
Dorian holte das restliche Essen aus seinen Taschen. »Du kannst alles haben, wenn du willst.«
»Wo hast du das überhaupt her?«
Auf die Schnelle fiel Dorian keine Lüge ein. »Ich bin in das nächste leerstehende Haus eingebrochen.«
»Also ist niemand zu Schaden gekommen oder so?«
Er nickte.
»Okay«, murmelte Chris und nahm das Essen entgegen. »Du sagtest, Adrian würde wiederkommen.«
»Die Niederlage lässt er nicht auf sich sitzen«, antwortete Dorian. »Er trägt einem auch schon weniger nach.«
»Und jetzt ist er hinter uns beiden her.«
»Hinter dir. Ich stehe ihm nur im Weg.«
»Warum bist du dann noch hier? Entweder, du nimmst mich wieder mit in die Hölle, oder du überlässt mich Adrian.«
»Soll ich gehen?«
Insgeheim wünschte sich Dorian, dass Chris einfach Ja sagte und ihm die Entscheidung abnahm. Stattdessen bekam er ein Schulterzucken und ein »Ich kann dir schlecht vorschreiben, was du machen sollst«.
›Aber wer sagt es mir dann?‹ Noch eine Erkenntnis, die an sich schon eine Sinnkrise nach sich gezogen hätte. Gerade aber ging sie zwischen all den anderen erschütterten Grundfesten beinahe unter. ›Habe ich jemals etwas selbstständig entschieden?‹
Dorian stand auf und danach unschlüssig im Raum herum. Schließlich fasste er sich ein Herz, ging zu Chris herüber und setzte sich neben ihn. Der beäugte ihn irritiert, ließ ihn aber gewähren. »Heißt das, du bleibst?«
»Ich… denke schon.«

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